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Titel
Reformer als Wertegemeinschaften. Zur diskursiven Formierung einer sozialen Gruppe im spätangelsächsischen England (ca. 850–1050)


Autor(en)
Bruhn, Stephan
Reihe
Mittelalter-Forschungen (68)
Erschienen
Ostfildern 2022: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
608 S.
Preis
€ 75,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tina Druckenmüller, Universität zu Köln

Wo sich Menschen Gedanken machen über die Zustände z.B. in der Gesellschaft, im eigenen Verein, im Unternehmen oder auch im Bildungswesen, da formieren sich häufig Gruppierungen von Leuten, die die gleichen Werte und Visionen für die Zukunft teilen. Diese Gruppierungen müssen oft nicht einmal greifbare Strukturen entwickeln, um im Diskurs eine Wirkung zu erzielen; oft haben sie zunächst nicht einmal einen Namen. Wer dazu gehört und wer nicht, erkennen und ermessen wir daran, was für Äußerungen jemand tätigt, und welche Wertvorstellungen darin zum Ausdruck kommen.

Können wir ähnliche Arten von Gruppen vielleicht auch für das Mittelalter fassen? Und wenn ja, wie? Stephan Bruhn, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in London, legt mit der vorliegenden Monografie einen ebensolchen Vorschlag vor, wie man eine Gruppe reformorientierter Akteure im frühmittelalterlichen England sichtbar machen kann, die sich selbst nicht mit eindeutigen begrifflichen Zuschreibungen zu erkennen gibt. Bruhn ist überzeugt, dass in der frühmittelalterlichen Historiographie und Hagiographie unter anderem auch Werte verhandelt werden und so Gruppen von Akteuren, die diese Wertevorstellungen teilen, profiliert werden.

Im Rahmen seiner Promotion ging Stephan Bruhn dieser Idee nach, indem er lateinische Prosaviten untersuchte, die im angelsächsischen England im Kontext der Reforminitiativen König Alfreds im 9. und der benediktinischen Reformen im 10. und 11. Jahrhundert entstanden waren. Dabei hat er sich bewusst gelöst und distanziert von dem vorrangigen Forschungsinteresse am historisch-realen Gehalt der hagiographischen Quellen oder von der beliebten Frage nach dem Verhältnis von Norm und Praxis. Sondern es sind gerade die Metaphern, die Allegorien und die Inszenierungen der Protagonisten in den Quellen, denen Bruhn Aufmerksamkeit schenkt und die er mit den Mitteln der historischen Diskursanalyse als Wertediskurse und diskursive Gruppenformierungsprozesse liest.

Seine Dissertation hat Bruhn bereits 2018 erfolgreich in Kiel verteidigt. Bei dem vorliegenden Werk handelt es sich nun um die 2022 im Thorbecke Verlag erschienene Drucklegung des überarbeiteten Manuskripts. Das gut 600 Seiten umfassende Werk teilt sich in vier große Kapitel, die jeweils durch eine kurze englischsprachige Zusammenfassung abgeschlossen werden. Dazu kommen Quellen- und Literaturverzeichnis, sowie Personen- und Ortsregister am Ende des Buches. Der erste, knapp 70 Seiten umfassende Teil ist als Einleitung zu verstehen, geht aber durchaus über die Funktion einer schlichten Einführung hinaus, insofern Bruhn hier tiefgehende methodische Überlegungen vornimmt und die Verwendung seiner Begriffe und Analysekategorien ausführlich reflektiert. So ist es nicht etwa Unwissen oder sogar Ignoranz geschuldet, wenn Bruhn am Begriff der „Reform“ und des „Reformers“ festhält, obwohl diese Begriffe in der Forschung ausführlich kritisiert worden sind.1 Vielmehr verwendet Bruhn diese Begriffe ganz bewusst als „analytische Kategorie“ (S. 53), um eine Gruppe zu benennen, die in ihrer Kommunikation erkennbar wird, aber die für sich selbst keine trennscharfe Terminologie entwickelt hat. Mit dem modernen Begriff „Reformer“ übernimmt Bruhn eben nicht zugleich dessen moderne Wortsemantik und Konnotationen, sondern er füllt ihn mit der Bedeutung, die im mittelalterlichen Diskurs zum Ausdruck kommt.

Ebenso wenig wie Bruhns Einleitung „bloß“ als Einleitung zu verstehen ist, handelt es sich bei dem vierten, abschließenden Teil um ein reines Resümee und Fazit. Vielmehr sind es sechs „Essays“ in denen Bruhn jeweils einzelne Aspekte seiner Studie zusammenfasst, evaluiert und perspektivisch weiterdenkt. Teil 1 und 4 der Arbeit verdichten sich auf diese Weise zu einer kritischen Reflexion von vergangenen und teils noch aktuellen Forschungstendenzen, z.B. wenn er dazu aufruft die „Meistererzählung […] einer tiefgreifenden Differenz zwischen einer laikalen Adels- und einer Klerikerkultur“ (S. 522) infrage zu stellen. Bruhn versucht neue Impulse zu geben und möchte seine Studie sowohl methodisch als auch thematisch verstanden wissen als Vorschlag für die weitere Erforschung von Reformkontexten und mittelalterlichen Viten.

Im umfangreichsten mittleren Teil der Arbeit, bestehend aus den Kapiteln 3 und 4, präsentiert Bruhn zwei Fallstudien zum Reformkontext der Regierungszeit von König Alfred einerseits und den benediktinischen Reformen im 10. und 11. Jahrhundert andererseits. Während er für die Zeit König Alfreds lediglich eine Quelle, nämlich Assers Vita Sancti Ælfredi für die ausführliche Analyse heranzieht, nimmt er für den Reformkomplex um die benediktinischen Reformen gleich sieben hagiographische Texte in den Blick. Es handelt sich um den Translationsbericht Translatio et miracula Sancti Swithuni von Lantfred, die Passio Sancti Eadmundi von Abbo von Fleury, Wulfstan Cantors Vita Sancti Æthelwoldi und die Lectiones in depositione Sancti Dunstani von Adelard von Gent. Hinzu kommen zwei Viten, die Byrhtferth von Ramsey zugesprochen werden: die Vita Sancti Oswaldi sowie die Vita Sancti Ecgwini. Schließlich noch bestreitet Bruhn die Hypothese von Reformferne oder sogar -feindlichkeit der Vita Sancti Dunstani des Autors B., von dem nichts weiter als die Initiale seines Namens bekannt ist, und schließt auch diese Biographie über den heiligen Dunstan in seine Analyse ein. Anhand von ausgewählten Textpassagen sowie intertextuellen Bezügen versucht Bruhn all diese Texte als einem Reformkontext zugehörig zu erweisen.

Die ausführlichen Quelleninterpretationen ordnet Bruhn in einem ersten Schritt anhand von elf Wertekategorien, wie z.B. Demut oder Freigiebigkeit, die sich im Laufe seiner Beschäftigung mit dem Quellenkorpus als sinnvolle Analysekategorien herausgestellt haben und von denen er hofft, dass sie auch für zukünftige Forschungen anschlussfähig sind und fruchtbar gemacht werden können. Ähnlich wie bei dem Reformbegriff, nutzt Bruhn bewusst moderne Begrifflichkeiten, um sich von der „meist wenig normierten Quellensprache“ produktiv zu emanzipieren (S. 517) und stattdessen Analysekategorien zu etablieren, die eine textübergreifende Vergleichbarkeit ermöglichen. In einem zweiten Schritt beleuchtet Bruhn die Gruppenformationsprozesse, in denen er insbesondere auch die Erzählungen von Normbrüchen in den Quellen thematisiert und ihre selbstvergewissernde Funktion im Wertediskurs herausstellt. Diese Zweiteilung in der Analyse der Fallbeispiele trägt einer Unterscheidung zwischen dem Reden über Werte und Normen und dem Reden oder Darstellen mit Werten und Normen Rechnung, die Bruhn trifft in Anlehnung an die Arbeit von Katharina Behrens über Scham im ricardischen England.2 Durch diese ausführlichen Quellenauswertungen kann Bruhn auch über das Interesse an den Gruppenformierungsprozessen und Wertediskursen hinaus viele neue Interpretationsansätze liefern, z.B. wenn er in Bezug auf die benediktinischen Reformen in England gerade nicht deren Klassifikation als Reform, sondern diejenige als „benediktinisch“ einer begründeten Kritik unterzieht (S. 499) und plausibel die Bemühungen der verschiedenen Autoren herausarbeitet, die Anforderungen der vita activa und der vita contemplativa zu versöhnen, anstatt einseitig die vita contemplativa als Ideal zu propagieren (S. 523f.).

Die Reforminitiativen selbst, deren Umsetzung und langfristige Wirkung stehen nicht im Fokus dieser Arbeit und werden auch nicht ausführlicher thematisiert. Wer also Lesestoff über die historischen Vorgänge, über das Handeln der Reformer sucht, wird hier zwangsläufig nicht fündig werden. Dies ist kein Werk für den Einstieg in die angelsächsische Geschichte. Bruhns Leistung besteht vielmehr darin, dass er durch eine Methodenreflexion einerseits und die konkrete Umsetzung seiner Methode anhand der Fallstudien andererseits aufzeigt, wie hagiographische Quellen und Viten für die Erforschung von Reformkontexten fruchtbar gemacht werden können. Dies macht seine Studie zu einem wichtigen Beitrag zur Erforschung der spätangelsächsischen Reformkontexte. Dadurch dass Bruhn dabei auch Quellentexte und -passagen in den Blick nimmt, die bisher von der Forschung nur wenig beachtet worden sind, ist Bruhns Werk aber ebenso ein Beitrag zur Interpretation und Auswertung der jeweiligen Quellen im Einzelnen. Schließlich vermag Bruhn in seinen Schlussessays viele Denkanstöße für die weitere Forschung zu geben, was sein Werk auch unabhängig von einem Interesse am frühmittelalterlichen England zu einer lohnenden Lektüre macht.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. Steffen Patzold, Die monastischen Reformen in Süddeutschland am Beispiel Hirsaus, Schaffhausens und St. Blasiens, in: Christoph Stiegemann / Matthias Wemhoff (Hrsg.), Canossa 1077. Erschütterung der Welt. Geschichte, Kunst und Kultur am Aufgang der Romantik, Bd. 1, Essays, München 2006, S. 199–208; Timothy Reuter, „Kirchenreform“ und „Kirchenpolitik“ im Zeitalter Karl Martells. Begriffe und Wirklichkeit, in: Jörg Jarnut / Ulrich Nonn / Michael Richter, Karl Martell in seiner Zeit, Sigmaringen 1994, S. 35–59.
2 Katharina Behrens, Scham. Zur sozialen Bedeutung eines Gefühls im spätmittelalterlichen England, Göttingen 2014.

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